Samstag, 22. September 2018

aber bitte red' weiter

Ich parle zwar auch ein bisschen français, habe aber nach der zurückliegende Woche erst einmal keine Lust mehr dazu. Eigentlich mag ich diese Sprache - und auch deren Menschen - aber manchmal macht man eben eine einzelne Person für seine plötzlichen Abneigungen gegenüber etwas Bestimmtem verantwortlich.

In diesem Fall handelt es sich um einen kleinen, harmlosen Austauschschüler, der uns alle hier ziemlich auf Trab gehalten hat, und nicht gerade dazu beitrug, das deutsch-französische Freundesverhältnis in unseren Köpfen aufzuhellen. Dabei hatten wir uns eigentlich alle auf ihn gefreut, waren gespannt und guter Dinge und planten jede Menge gemeinsamer Unternehmungen und Ausflüge.
Und dann kam André (där rischtigö Namö ist där Redaksjoh bekannt...). André sprach kaum ein Wort, wollte sich nicht in unserer Nähe aufhalten und benahm sich befremdlich. Nach ca. fünf Tagen verließ er sein Zimmer einmal ohne sein Handy, das dort am Ladekabel hing. Das war der Moment, an dem ich zum ersten Mal sein Gesicht sah. Ansonsten bekam ich nur die Rückseite seines Smartphones oder seine eigene, mit einem Rucksack bedeckte, zu sehen.

Da wir höfliche Menschen sind, haben wir immer wieder versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen, was wir dann vorsichtshalber auch gleich in seiner Sprache taten. Um ihn nicht völlig zu verunsichern, stellten wir harmlose Fragen, die an Belanglosigkeit kaum zu überbieten waren und deren Antworten uns auch nicht im Entferntesten interessierten. Aber irgendwo muss man ja mal anfangen. Nur dass er uns mindestens 90 Prozent der Antworten schuldig blieb. Oft guckte er nur irritiert, runzelte die Stirn und machte keinen Hehl daraus, wie unvorstellbar weit außerhalb seiner Möglichkeiten es lag, unser Französisch zu verstehen. Wenn er dann doch mal etwas entgegnete, was möglicherweise eine Antwort war, sprach er extrem leise, sehr sehr schnell und in Worten, die keiner von uns je gehört hatte. Vielleicht war er in Wahrheit von den Philippinen eingereist. Wir werden es nie erfahren.

Trotzdem ließen wir uns nicht beirren und verfuhren einfach weiter so mit ihm, als seien sein Verhalten und seine Reaktionen vollkommen unspektakulär und in keinster Weise absurd oder skurril. So stiegen wir mit ihm in den Zug, um einen Tag in Hamburg zu verbringen. Bereits in der Bahn nahm er mit deutlichem Abstand zu uns in einer entfernten Sitzreihe Platz. Kaum hielt der Zug in Hamburg, stieg er aus und lief davon. Obwohl wir ihm natürlich erklärten, was wir davon hielten und dass wir wenig Lust hätten, ihn in der Menschenmenge zu verlieren, blieb er nicht in unserer Nähe. Wir rannten also einen Tag lang in Hamburg einem Rucksack auf zwei Beinen hinterher. Noch dazu einem Rucksack, der alle halbe Stunde fragte, ob wir jetzt bald wieder nach Hause fahren würden.
Ganz offensichtlich war dieser Ausflug auch für ihn nicht vergnügungssteuerpflichtig. Aber das war uns egal, vielmehr dachten wir uns "Jetzt erst recht!".

Und zwischendurch gab es ja immer wieder Momente, wo wir kurz durchatmen konnten. Lief er zum Beispiel durch den alten Elbtunnel, wussten wir, dass er am anderen Ende wieder herauskommen würde und es nur extrem unwahrscheinlich war, ihn zwischendurch zu verlieren. Anders sah es dann schon aus, wenn er sich vor uns als letzter in einen vollen Aufzug quetschte und nach oben fuhr. Man wusste nie, ob und wann er sich mal wieder nach uns umsehen würde.

Ich habe so ein Verhalten zuletzt bei meinen Kindern erlebt. Allerdings waren sie da ungefähr zwei Jahre alt, der Zeitpunkt, wo die Beine besser funktionieren als das Gehirn. André war immerhin schon 14, benahm sich aber wie ein vierjähriger Autist. Weder konnte oder wollte er mit uns gemeinsam am Tisch sitzen noch mochte er neben uns stehen, wenn wir Fotos machten. So sieht es im Nachhinein immer ein bisschen so aus, als wäre er ein mit Gewalt notdürftig integrierter Fremdkörper. Ein ziemlich realistisches Bild also.

Am nächsten Tag beklagte er sich bei seiner Lehrerin, wir würden ihm für die Tagesausflüge nichts zu essen mitgeben, woraufhin meine Tochter einige vorwurfsvolle Blicke aus französischen Augen erhielt und aufgefordert wurde, ihm beim Bäcker etwas Angemessenes zu kaufen.
Das war dann der Moment, wo mir der Kragen platzte. Bis dahin hatten wir uns unsere sämtlichen Beine ausgerissen, aber selbst wenn wir die Kelly-Tausendfüßler-family gewesen wären, hätte das nicht ausgereicht.
Die zuständige Lehrerin flüchtete sich in Unwissenheit. Selbstverständlich war es bis dahin niemandem von den Pädagogen aufgefallen, dass er sich irgendwie eigenartig verhielt.
Vermutlich hatte ich also diese Abneigung gegen die Baguette-unter-dem-Arm-tragenden Menschen schon lange vorher, und benötigte nur einen konkreten Anlass, damit mein Unmut sich endlich Bahn brechen konnte. Oder ich trage ihnen einfach ihren WM-Sieg nach - wer weiß...

A bientôt

Sonntag, 9. September 2018

Die Guten

Den originellen Aussiebungsmöglichkeiten der Online-Ausleihe habe ich es zu verdanken, dass mir dieses Buch in die Hände fiel. Obwohl es ja eigentlich nur auf dem Bildschirm meines Ebooks erschien.
Joyce Maynard, eine mir bisher unbekannte Autorin, hatte mich beim ersten Satz. Sie erzählt vollkommen unaufdringlich und erzeugt doch auf ihre subtile Art eine unheilvolle Stimmung, die die Geschichte von Anfang an begleitet und belauert.

Wenn ich solche Bücher lese, weiß ich wieder, warum ich es bisher nie gewagt habe, ein Buch zu schreiben und mich mit solchen Größen zu messen. Dabei gibt es mindestens genauso viele Gegenbeweise, die mich denken lassen:
Das kannst du auch...
Das kannst du schon lange.
Das kannst du besser!

Aber zurück zu den Guten. Die in Wirklichkeit natürlich gar nicht so gut sind, wie sie sich zunächst anfühlen. Die hinter ihrer Fassade gar kein so gutes Leben führen, wie man anfangs zu glauben bereit wäre. Deren Freundschaft keine wohltuende Oase ist sondern nur eine einseitige Zweckverbindung. Und die darum auch nicht gut sondern eher weh tun.

Während man lesend dieser Enttarnung und Aufdeckung von Täuschungen beiwohnt, fragt man sich zwangsläufig, welche Freundschaften im eigenen Leben vielleicht auch in Wahrheit keine sind, an welcher Stelle man sich hat täuschen lassen, was man möglicherweise nicht sehen will, wer die wahren Freunde sind und wem man eventuell nur nützlich ist.

Und dann ist da noch Elliot, ein echter Freund. Der aber trotzdem nicht so akzeptiert werden kann wie er ist.
Ich weiß nicht wie viele Elliots es in meinem Leben schon gab, und wann ich endlich bereit bin, einen von ihnen zu akzeptieren. Wann es mir gelingt, genug Menschenkenntnis aufzubringen, um zwischen bedingungslosen Freundschaften und freundlichen Bedingungen zu unterscheiden. Wann ich es schaffe, falsche Freunde zu durchschauen und zu erkennen, welche Fassade nur ein Schutz ist und welche mich blendet.

Ich habe gelesen, dass die Autorin auch eine Art Autobiographie geschrieben hat, "Tanzstunden. Mein Jahr mit Salinger." Und ja, es ist die Rede von DEM Salinger, dem catcher in the rye-Salinger.
Mich hat Die Guten neugierig gemacht, zu erfahren: Wer ist diese Frau, die es so fabelhaft versteht, in einem durch und durch natürlichen Erzählstil, leise und souverän, den Leser tief in seinem Innersten zu berühren?!
Und darum werden die Tanzstunden auf jeden Fall ein Teil meines Herbststapels sein.